Vortrag beim Gartenbauverein Kranzberg: Wer braucht schon Mücken?

Bericht von Jenny Radeck

Der Obst- und Gartenbauverein Kranzberg lud am 19. Mai zum Vortrag von Dr. Andreas H. Segerer, einem Fachmann für Schmetterlinge, zum Metzgerwirt. Die erfrischende Saftschorle oder auch das kühle Bier schmeckten hervorragend an diesem warmen Frühsommerabend, dennoch wurde es den knapp 20 Teilnehmern, die den Ausführungen des engagierten Artenschützers lauschten, immer unbehaglicher. Denn nichts anderes als das Ende der Welt, wie wir sie kennen, wurde in Aussicht gestellt.

Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland erregte im Jahr 2017 die „Krefeld-Studie“ Aufsehen. Sie belegt den Rückgang der Biomasse an Fluginsekten um 76% in den vergangen 27 Jahren – in Naturschutzgebieten! Von den in Bayern vorkommenden 3309 Schmetterlings-Arten (Stand März 2021) sind 10% nicht mehr nachweisbar und bei 80 % ist ein starker, sich leider beschleunigender Rückgang zu beobachten. Auf den bayerischen Wiesen hat die Anzahl aller Insekten ebenfalls dramatisch abgenommen: seit 2009 um 78 %.

Bruttosozialprodukt-Helden

Insekten bestäuben 90 % aller Pflanzen und 75 % aller Nutzpflanzen. Sie beseitigen tote Materie. Diese Leistungen entsprechen dem Äquivalent von mind. 200 Billionen US-Dollar pro Jahr. Zum Vergleich: Das menschengemachte globale BPI lag 2020 bei nur 84 Billionen USD.

Überbringer schlechter Nachrichten

Wer wie Segerer zu den Überbringern dieser deprimierenden Nachrichten zählt, macht sich nicht beliebt. „Bauernfeind“ sei, so bemerkt er, sein zweiter Name. Dabei sei die Landwirtschaft nicht die allein Schuldige am Insektensterben: Brachflächen werden verbaut. Die vielen nächtliche Lichtquellen leiten Nachtfalter in die Irre und den sicheren Tod. Und auch der menschliche Sinn für Ordnung sei für Insekten verheerend: Grünflächen, Wegränder, Parks und Gärten werden mit Pestiziden, Laubbläsern, dem Ritual des wöchentlichen Rasenmähens und seit neuestem permanent mähenden (und Insekten und ihre Wirtspflanzen killenden) Mährobotern so drastisch „sauber“ gehalten, dass dort kaum eine Art überleben kann.

Diese Grafik veranschaulicht das System der planetaren Grenzen, womit Wissenschaftler versuchen darzustellen, inwieweit das Ökosystem der Erde die menschengemachten Störungen noch aushalten kann, ohne zu kollabieren. Die „genetic diversity“ oben links umfasst auch den Aspekt der Artenvielfalt und befindet sich bereits im tiefroten Bereich, während der Aspekt „climate change“ (Klimawandel) sich aktuell noch in Warnstufe „Gelb“ befindet.
Grafik aus: Will Steffen et. al., Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, SCIENCE, 15 Jan 2015, Vol 347,Issue 6223 DOI: 10.1126/science.1259855

Die unterschätzte Gefahr

Die Klimakatastrophe gelte gemeinhin als die größte aller Bedrohungen für die menschliche Zivilisation. Das sei, so Segerer, genau genommen nicht korrekt: Betrachte man die Pufferkapazitäten des Ökosystems Erde, sei der Verlust der Biodiversität viel bedrohlicher. Mit sofortigen, entschlossenen Maßnahmen ließe sich die Klimakatastrophe möglicherweise noch abmildern. Der Verlust der Arten aber bewegt sich bereits jetzt schon, wie ein Blick auf die nebenstehende Grafik zeigt, im tiefroten Bereich, gefährlich nahe an Kipp-Punkten. Oder gar schon im unumkehrbaren Kippen, was schwerwiegende ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen wird.

Artenvielfalt in der Kulturlandschaft

Kaum zu glauben, aber auf dem Gebiet des heutigen Deutschland haben unsere Vorfahren durch Rodungen die Artenvielfalt sogar in gewisser Weise befördert: Lebten die alten Germanen noch in nebligen Wäldern, so ritten die hochmittelalterlichen Ritter durch vielfältige Landschaften mit Lichtungen, Äckern, Hecken und bunten Wiesen – ein Insektenparadies. Doch um 1830 setzte die Industrialisierung ein. Und mit ihr kam der Kunstdünger. Von da an veränderte sich alles.

Mineralischer und organischer Stickstoffdünger bereiteten dem Hunger ein Ende. Ein nie gekanntes Bevölkerungswachstum setzte ein. Neue Siedlungs-, Acker- und Verkehrsflächen wurden benötigt. Industrie und Verkehr pusteten immer mehr Schadstoffe in die Luft. Hochwirksame Insektizide kamen zum Einsatz. Es konnte auch mehr Tierfutter hergestellt werden und es wurden immer mehr Nutztiere gehalten. Die Landwirtschaft wurde technisiert und intensiviert, bis hin zur industriellen Massentierhaltung heutiger Zeit.

Zuviel Stickstoff und Phosphor im System

In Folge entwichen diverse Schadstoffe aus Verkehr und Industrie und große Mengen an stickstoffhaltigem Ammoniak aus Dünger und Gülle in die Luft und verteilten sich durch den Regen überall in der Umwelt. Insbesondere die Folgen dieser „Luftdüngung“ sind fatal für die Biodiversität. Pflanzen, die „magere“ Böden benötigen und Dünger nicht vertragen, werden von stickstoffliebenden Pflanzen verdrängt, und die Insekten, die auf diese Mager-Pflanzen wie viele Wildblumen angewiesen sind – wie die Schmetterlinge beispielsweise – verschwinden. Wie weit der Eintrag von Stickstoff (engl.: Nitrogen) und dem ebenfalls in Dünger enthaltenem Phosphor in die Umwelt schon fortgeschritten ist, zeigt die Grafik der Planetaren Grenzen: viel zu weit. Mit unabsehbaren Risiken für das System Erde.

Drei Probleme sind erkannt

Es sind vor allem 3 Faktoren, die den Insekten zusetzen:

  1. Die Monotonisierung der ursprünglich vielfältigen Kultur-Landschaften
  2. Die Verinselung bzw. die Unverbundenheit der wenigen Lebensräume, die wir den Insekten noch lassen (führt zu genetischer Verarmung)
  3. Die chemische Belastung durch Luftdüngung und direkte Düngung sowie durch Autoverkehr und Abgase und durch den Einsatz von Pestiziden

Was können wir tun?

Wir müssen verstehen, dass unsere Ernährung, unser Wohlstand und unser Überleben nicht nur vom Klima abhängig sind, sondern auch von der Vielfalt der Arten. Wir alle können durch unser Verhalten dazu beitragen, die Umwelt wieder insektenfreundlicher zu gestalten.

Jeder Quadratmeter zählt: Statt des beliebten englischen Rasens hier mitten in Freising ein blühendes Durcheinander, das Nahrung und Schutz für Insekten bietet.

Garten- und Balkonbesitzer*innen können etwas zum Artenschutz beitragen. Jede Kaufentscheidung kann etwas zum Artenschutz beitragen. Jede Kommune kann etwas zum Artenschutz beitragen. Wir haben keinen Mangel an Wissen, wie man Feld und Flur, Gärten und öffentliche Flächen artenreich gestalten kann. Tipps, Empfehlungen und Anleitungen finden sich bei den Landwirtschafts- und Forstämtern, bei Naturschutzverbänden, in Literatur und Internet inzwischen zuhauf. Wir müssen nur endlich anfangen.